Vorgeschichte
Es war ein lang gehegter Traum: einmal mit dem Rad auf‘s Stilfser Joch zu fahren, der Königin der Alpenpässe. 2760 m hoch, knapp 1900 Höhenmeter sind zu meistern. Nur der Col d‘Iseran ist noch ganze 7 Meter höher, aber in der Straßenführung deutlich flacher. Für halbwegs trainierte Hobbyradler außerhalb des Leistungssportbereichs ist die Überfahrung des Passo Stelvio schon so etwas wie ein Ritterschlag.
Spätestens seit ich Ende der Nuller Jahre zum ersten Mal mit dem Motorrad durch das Kurvenlabyrinth gecruist bin, ließ mich der Gedanke nicht mehr los und jetzt sollte es endlich soweit sein. Als Basislager haben wir uns eine schöne Ferienwohnung in Tarsch im Vinschgau gemietet, etwa 25 km von Prad entfernt, wo die Passstraße ihren Anfang hat.

Als ich am Morgen mein Rad ins Auto packe, um nach Prad zu fahren, bin ich extrem angespannt. Die Vorbereitung für dieses Vorhaben lief alles andere als ideal. Vier Wochen zuvor hatte ich einen Hörsturz, der die Trainingsmöglichkeiten stark eingeschränkt hat und auch mental ein ordentlicher Schuss vor den Bug war. Vom Arzt hatte ich zwar grünes Licht für alle Arten von sportlichen Aktivitäten, aber immer mit der Vorgabe, mich nicht ganz auszupowern. Ob sich dies verwirklichen ließ und ob ich es so überhaupt auf den Pass schaffen würde?
Endlich geht es los! Die ersten Kilometer auf der Passstraße des „Stelvio“
Das sind die Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, als ich auf mein Gravelbike steige, um die ersten Kilometer in Angriff zu nehmen. Sie führen auf einem neu angelegten Radweg parallel zur Straße bis vor den Abzweig nach Sulden. Die Steigung ist hier noch moderat und liegt meist deutlich unter 10%. Genau die richtigen Bedingungen, um die Anspannungen loszulassen und sich einzuradeln.
Kurz nachdem der Radweg endet und ich auf der Passstraße weiterfahre, kommt bei Kilometer 10 der erste Meilenstein, auf den ich schon so lange gewartet habe: Die Serpentine, gekennzeichnete durch ein unscheinbares Schild „Kehre / Tornante 48“. Ab jetzt heißt es runterzählen der Kehren bis 1 und dann die letzte Meter zur Passhöhe nehmen.

Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Zunächst liegen die einzelnen Kehren noch kilometerweit auseinander. Die nächste kommt erst im Örtchen Trafoi, dem letzten vor dem eigentlichen Passanstieg. Inzwischen sind bereits 500 Höhenmeter zurückgelegt und am Ortsende ergibt sich die Möglichkeit, die Trinkflaschen noch einmal an einem Brunnen aufzufüllen und den ersten Müsliriegel zu verarbeiten.



Einstieg ins Kurvenlabyrinth. Es geht ans Eingemachte!
Ab hier geht es richtig ans Eingemachte. Im Wald folgt Kehre auf Kehre und die Steigungen dazwischen erreichen bis zu 13%. Die Straße ist schmal und während ich immer langsamer werde und manchmal schon Probleme habe, die Spur zu halten, nimmt der Verkehr immer mehr. Vor allem sind es die Motorradfahrer, die mit Höllentempo und Mordslärm zwischen den Kehren an einem vorbei donnern und auf Dauer echt nerven. Da fällt mir ein: „Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“ 😉
Beeindruckend ist aber die Menge der Radfahrer, die sich das hier antun und erstaunlich klein ist der Anteil der E-Biker unter ihnen. Überwiegend sind es junge, durchtrainierte und unverschämt fitte Hungerhaken. Während sie an mir vorbeidüsen als gäbe es kein Morgen und sich dabei noch gegenseitig attackieren, stelle ich mir die Frage, ob es so etwas wie Welpenschutz auch für Senioren gibt.

Etwas langsamer als sie, aber mindestens ebenso ambitioniert, sind die „Mamils“ (middle-aged-men-in-lycra), von denen man einigen anzusehen scheint, wie verzweifelt sie hier nicht nur gegen den Berg, sondern auch gegen das Altern ankämpfen und dies durch lautes Stöhnen unterstreichen.
In meinem Alter sind hier eher wenige unterwegs und denen sieht man schon an, dass es verdammt zähe Knochen sind. Um es kurz zu machen: Ich werde während der ganzen Tour ständig überholt, was auch kein Wunder ist, denn wer noch langsamer fährt als ich, fällt um.
Bei einer Höhe von 2000m wird die Luft dünn – besonders für mich 🙂
Das soll aber nicht heißen, dass das hier für mich ein Spaziergang wäre. Vielmehr schraube ich mich mühsam Kehre um Kehre in die Höhe, bis sich nahe der 2000er Marke der Wald lichtet und einen fantastischen Blick auf das jetzt frei vor mir liegende Ortler-Massiv mit seinen schneeweißen Gletschern freigibt. Bis zur Übergabe Südtirols an Italien 1919 war der „König Ortler“ der höchste Berg Österreichs. Die wenig steile Querpassage, die sich nun bis zu den nächsten Kehren anschließt, erlaubt, dass man den Anblick auch genießen kann.

Nach weiteren 10 dicht aufeinanderfolgenden Kehren erreiche ich die Franzenhöhe, auf 2200 m schon deutlich über der Baumgrenze gelegen. Von hier aus hat man eine beeindruckende Sicht ins Tal. Noch beeindruckender ist allerdings der Blick nach oben. Man sieht bereits die Passhöhe, sie erscheint zum Greifen nah. Dazwischen liegen aber noch 22 der insgesamt 48 Kehren und fast 600 Höhenmeter. Die Passhöhe scheint fast senkrecht über mir zu liegen.

Die Straße wurde im frühen 19. Jahrhundert in den fast senkrechten Fels gesprengt, um eine Verbindung zwischen Südtirol und der Lombardei, das damals ebenfalls noch zu Österreich gehörte, zu schaffen. Ganze 5 Jahre hat der Bau der Stilfserjochstraße gedauert, praktisch alles in Handarbeit.

Das Finale.
Es ist das ultimative Finale. Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich nicht zu verausgaben, geht es so ganz ohne dann doch nicht. Kehre um Kehre zähle ich runter und pfeife gefühlt aus dem letzten Loch. Immer mal wieder bleibe ich in einer Linkskurve stehen, wenn es der Platz zulässt und schnaufe kurz durch. Warum in der Linkskurve? Da ist es außen einigermaßen flach und es erleichtert das Anfahren, was ich an anderen Stellen nur noch schwer hinbekomme.



Den ganzen Morgen über habe ich mich in Demut geübt aber als ich bei der Kehre 5 ankomme, kann ich mir ein fettes Grinsen nicht verkneifen, denn so langsam wird mir klar, dass ich es auf jeden Fall schaffen werde, selbst wenn ich den Rest schieben müsste. Kurz vor Kehre 3 dann wieder ein 13%er, der mir, da ich schon ziemlich platt bin und die Luft auch schon ganz schön dünn ist, nochmals alles abverlangt. Kehre 3 ist eine Linkskurve, also ein letztes Mal anhalten, kurz durchschnaufen und dann ab in den Zieleinlauf.



Auf dem höchstgelegenen Rummelplatz Europas.
Oben angekommen ist es allerdings nicht möglich, die innere Freude in Stille zu genießen, so wie man es beim Erreichen eines Gipfels nach einer schweren Bergtour tut. Das Stilfser Joch wird oft auch als höchster Rummelplatz Europas bezeichnet. Hunderte, wenn nicht tausende tummeln sich hier. Alles ist voll mit Andenkenläden, T-Shirt-Ständen, es gibt Stelvio-Trikots zu kaufen, Würstchen, Bier und alles Mögliche. Ich kannte das ja schon von meiner früheren Motorrad-Tour und war darauf gefasst.
So ist es für mich kein Schock, sondern ich ertrage es mit Fassung und einem Schmunzeln. Am meisten berührt mich, wie ein junger Mountainbiker hier oben ankommt. Die Familie, offensichtlich mit dem Auto hier oben, erwartet ihn schon. Sie brechen in frenetischen Jubel aus, als er die letzen Meter zurücklegt. Der Jubelkönig ist allerdings der Hund, der minutenlang an ihm und dem Fahrrad hochspringt, als käme sein Herrchen gerade aus dem Krieg zurück.
Hier treffe ich auch wieder auf eine Rocker-Gang der besonderen Art. Etwa 15 Holländer (glaub ich zumindest), die mit ihren Kutten auf uralten Zweitakt Mofas unterwegs sind, zum Teil ziehen sie sogar kleine Anhänger hinter sich her. Sie haben mich bereits kurz nach dem Start in Prad überholt, mussten aber scheinbar immer wieder Pausen einlegen, um ihre „Maschinen“ abzukühlen. Hier gibt es echt nichts, was es nicht gibt…
Eine Abfahrt, die ihresgleichen sucht!
Ich mache noch ein paar Beweisfotos von meiner Gipfelankunft, kaufe mir als Andenken ein Passo Stelvio T-Shirt und sehe zu, dass +Ich weiterkomme. Vor der Abfahrt wird die Windjacke übergezogen, denn jetzt wird es trotz Sonne kalt. 1900 Höhenmeter Abfahrt liegen vor mir.

Foto: „20180624 07 Passo Umbrail“ von Sjaak Kempe ist lizenziert unter CC BY 2.0.
Ich überquere den Pass, fahre ein Stück in die Lombardei und schon nach wenigen Kilometern geht es rechts ab in Richtung Schweiz. Ein letztes Mal sind ein paar Höhenmeter zu überwinden, bis ich auf dem Umbrail Pass angekommen bin. Er bildet die Grenze zur Schweiz und hat mit 2501 Metern eine sehr respektable Passhöhe, aber gleichzeitig das Pech, einen nochmal deutlich höheren Nachbarn zu haben, so dass kaum jemand Notiz von ihm nimmt.

Foto: „20180624 06 Passo Umbrail“ von Sjaak Kempe ist lizenziert unter CC BY 2.0.
In rauschender Fahrt mit teilweise über 60km/h geht es jetzt runter ins Müstair-Tal, was nach erneutem Grenzübergang nach Italien Münstertal heißt. Diese Strecke gefällt mir noch besser als der Aufstieg von Prads aus. Er ist weit weniger spektakulär, dafür landschaftlich ein Traum und zudem mit deutlich weniger Verkehr belastet. Während ich für den Aufstieg fast 4 Stunden gebraucht habe, bin ich auf dem kilometrisch deutlich längeren Rückweg nur eine Stunde unterwegs.
Dann wird das Rad wieder ins Auto gepackt und es geht zurück in die Ferienwohnung, deren besonderes Highlight ein Whirlpool auf der Dachterrasse mit weitem Blick auf den Vinschgau ist. Kerstin, die mich heute nicht begleiten konnte, da sie keinen Urlaub hat, sondern remote arbeitet, erwartet mich bereits. Im Pool berichten wir uns gegenseitig von unserem Tagwerk und Hund Rocky hört gespannt zu.



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