Eschborn – Biedenkopf-Wallau – Arolsen – Hameln – Winsen (Aller) – Lüneburg
Aufbruch: Von der neuen in die alte Heimat
Die Nacht war kurz. Nach dem nervenzerreißenden Elfmeterschießen hat es noch lange gedauert, bis ich in der Lage war, wieder runter zu kommen und einzuschlafen.
Natürlich wollte ich das Finale der Frankfurter Eintracht im Europapokal gegen die Rangers noch im Kreise meiner Frau und meiner Freunde sehen und nicht alleine in irgendeinem Hotelzimmer. Auch wenn das heißt, dass die erste Tagesetappe bis in meine alte Heimat nach Biedenkopf-Wallau gleich 120km lang wird. Aber mit der Euphorie des Europapokalsiegs im Rücken, wird es schon gehen…
Nach etwa 4 Stunden Schlaf und den letzten Vorbereitungen steige ich auf’s Rad und bin ziemlich angespannt. Die Strecke nötigt mir Respekt ab und für den Nachmittag sind schwere Gewitter angesagt, was den Druck zusätzlich erhöht.

Bereits jetzt ist es sehr schwül und mir wird klar, dass die beiden Wasserflaschen keinesfalls ausreichen werden. Nach einiger Zeit komme ich aber ganz gut in Tritt und die Laune wird immer besser, trotzdem kann ich längst nicht so viel trinken, wie ich rausschwitze. Nach etwa 40km passiere ich Obermörlen, wo Kerstins Schwester mit ihrer Familie lebt. Kurzentschlossen mache ich einen Abstecher und habe Glück, dass unsere Nichte Tammi zuhause ist, die mich gleich mit Wasser versorgt. Schnelle Druckbetankung und weiter geht’s, der Tag ist noch lang. Hinter Gießen fängt es dann an, richtig zäh zu werden. Die Hitze hat ihren Höhepunkt erreicht und gerne würde ich eine längere Pause machen, aber bei den kurzen Halts checke ich auf dem Handy immer die Wetterlage und sehe dann zu, dass ich schnell weiter komme.

Auf dem Salzböderadweg nahe Lohra geht es dann aber nicht mehr. Die Wasservorräte sind schon seit einer Stunde wieder aufgebraucht und als ich den Biergarten an der Strecke sehe, kann ich nicht widerstehen. Ein großes, kühles alkfreies Weizen gibt neuen Schwung und die Wirtin ist so nett, mir die Trinkflaschen mit Wasser aufzufüllen. Damit schaffe ich sogar noch einen Abstecher, um die stark befahrene Hauptstraße zu umgehen.
In meinem Heimatort Wallau wird dann gleich die Verwandtschaft abgeklappert. Gerne würde ich noch mehr Leute besuchen, aber die Zeit lässt es nicht zu und außerdem bin ich ziemlich fertig. Lediglich der Besuch in meinem Elternhaus, wo die neuen Besitzer Janina und Tim super Modernisierungsarbeiten durchführen, muss noch sein.

Bei tollem Essen und schönen Gesprächen lasse ich den Tag mit guten Freunden ausklingen. Vielen Dank an Ingo und Rita für den netten Abend und den 5-Sterne-Hotelservice!
PS: ich bin fast trocken angekommen. Erst als ich mit dem Rad auf den Hof fahre, fängt es an, ordentlich zu schütten.
Über die Berge und durch das Edertal: Von Wallau nach Arolsen.
Der morgendliche Blick aus dem Fenster gleicht dem in eine Waschküche. Obwohl bereits 15 Grad, hängen überall noch Nebelfetzen. Auch für heute Nachmittag sind wieder Unwetter angesagt, also nicht allzu sehr trödeln!

Schon beim Aufsteigen auf’s Rad merke ich, dass der gestrige Tag seine Spuren hinterlassen hat. Die Beine sind noch etwas schwer und der Hintern… naja, lassen wir das… Über Weifenbach geht es hoch auf das Lausfeld, Stätten, die ich aus meiner Jugend noch gut kenne. Die Auffahrt zum Lausfeld, dem kleinen „Pass“ zwischen Lahn- und Edertal nach nicht mal 5km, fordert schon mal ein wenig und macht richtig wach. Die Straße ist asphaltiert, aber man trifft hier eher selten ein anderes Fahrzeug, was das Ganze sehr reizvoll macht. Die steile Abfahrt auf der anderen Seite mündet auf den Ederradweg, dem ich auf den nächsten fast 50 km folge. Gerade die ersten Kilometer sind landschaftlich sehr schön und auch richtig gut ausgebaut. Später sind dann auch einige schotterige Weg oder Radwege direkt an der stark befahrenen Bundesstraße dabei.

Trotz des Wetterberichts bin ich heute entspannter als am Vortag, denn ich weiß, dass ich ab Frankenberg immer in der Nähe der Bahn unterwegs bin und notfalls umsteigen könnte. Nach knapp 60km erreiche ich den Edersee und genieße noch einmal den Ausblick, bevor es auf den unangenehmsten Abschnitt der heutigen Tour geht.

Die Route führt jetzt entlang der Bundesstraße Richtung Korbach auf abmarkierten Radstreifen, schlechten Geh-/Radwegen und z. T. auch direkt auf der Fahrbahn. Es geht ständig bergauf, die Kraft lässt langsam nach und im Sekundentakt donnern die 40-Tonner knapp an mir vorbei. Ziemlich genervt halte ich an und greife zu meinem Rettungsanker. Ich setze mein Headset auf und schalte die Lieblingsmucke ein. Sofort hellt sich die Stimmung auf, die Beats fahren in die Wade und ich bekomme die zweite Luft. Schon beachtlich, was Musik bewirken kann! Als dann nach wenigen Kilometern die Route auch wieder durch die schönen Felder und Wiesen Nordhessens läuft, vergeht der Rest der Strecke wie im Flug.
Während ich diese Zeilen in meinem Hotelzimmer schreibe, blitzt und donnert es ordentlich. Aber angekommen bin ich – mal wieder – gut gelaunt und trocken.
Durch Nordhessen zur Rattenfängerstadt: Von Bad Arolsen nach Hameln
Kalt ist es geworden. Der Himmel ist grau und wolkenverhangen. Trotz Weste und Windbreaker fröstelt es mich, als ich am Morgen auf das Bike steige. Dafür brennt der Hintern umso mehr.
Der Wind bläst noch ordentlich und ich hoffe, dass die Strecke komplett befahrbar ist. Gestern ist Paderborn von einem Tornado verwüstet worden und meine Strecke führt nicht allzu weit daran vorbei. Um es vorweg zu nehmen: es liegen immer wieder abgebrochene Äste auf dem Weg, aber zu einem echten Problem soll es nicht werden.
Der erste Abschnitt der Tour führt mich durch die weiten hügeligen Felder Nordhessens und es beeindruckt mich immer wieder, wie dünn Deutschland außerhalb der Ballungsräume doch eigentlich besiedelt ist. Die großen Straßen führen von Stadt zu Stadt und wenn man mit dem Auto dort unterwegs ist, bekommt man einen ganz anderen Eindruck als beim Radeln durch die freie Natur. Ich genieße die Landschaft an meiner Radstrecke, sie ist unspektakulär aber trotzdem wunderschön.



Nach etwa 40km kommt dann aber doch die erste große Krise der Tour. Kilometerweit geht es an einer Bundesstraße bergauf, der Wind, in den sich einige Regentropfen mischen, bläst so ins Gesicht, dass ich kaum vorwärts komme. Außerdem weiß ich nicht mehr, wie ich sitzen soll. Der erste Tag mit seiner schwülen Hitze war nur wenige Kilometer zu lang, aber die haben ausgereicht, um mich wund zu fahren. Zwar hatte ich im Vorfeld der Tour eigentlich genügend Trainingskilometer absolviert, nur leider nicht auf dem Rad und dem Sattel, mit dem ich nun unterwegs bin. Anfängerfehler. Das rächt sich jetzt!
Besser wird die Stimmung erst bei der langen Abfahrt nach Bad Driburg. Dort suche ich mir am Ortsrand einen windgeschützten Platz und esse mein Frühstücksbrötchen, bevor ich die letzte längere Steigung – meine persönliche Schlacht am Teutoburger Wald – in Angriff nehme. Oben angekommen, stelle ich fest, dass ich in den ersten 2,5 Tagen bereits ein gutes Drittel der Höhenmeter der 3-wöchigen Tour absolviert habe. Im Norden dürfte dann eher eine steife Brise die Herausforderung sein.

Meine Krise habe ich bald überwunden, die Laune bessert sich spürbar. Hin und wieder lässt sich die Sonne blicken und der stramme Wind entwickelt sich langsam zu meinem Freund. Er hat gedreht, kommt eher von der Seite und oft schiebt er mich sogar richtig an. Verbunden mit der mittlerweile recht flachen Landschaft sorgt er dafür, dass ich die letzten Kilometer in das schöne Weserstädtchen Hameln segeln kann.



Es wird flach: Von Hameln nach Winsen an der Aller.
Die Sonne scheint, der Wind ist nicht mehr so stark und die Temperaturen sollen wieder auf etwa 20 Grad steigen: Dieser Tag macht Lust auf’s Radeln! Nach einer ruhigen Nacht und etwas Frühstück (das meiste lass ich mir einpacken) geht’s frisch gestärkt auf’s Bike. Die Strecke ist mit gut 90 km deutlich kürzer als gestern und größere Steigungen fehlen völlig. Viele Gründe also, um locker und gut gelaunt loszutreten, wenn da nur die Sitzbeschwerden nicht wären. Ich gebe mir Mühe, sie auszublenden und es gelingt mir erstaunlich gut. Man merkt deutlich, dass ich mittlerweile in der Norddeutschen Tiefebene angekommen bin. Berge sucht man auch am Horizont vergeblich. Die Landschaft ist aber abwechslungsreicher als ich befürchtet hatte. Hin und wieder gibt es doch kleine Hügel – Felder, Wiesen und kleine Wälder wechseln sich ab. Besonders die kleinen Örtchen mit ihren schmucken Fachwerkhäusern sind sehr schön anzuschauen.


Ich genieße die Sonne und die Umgebung bis ich nach 45km nach Hannover komme, eine Stadt deren Durchquerung sehr viel länger dauert, als zuvor angenonommen und deren Charme sich in überschaubarem Rahmen hält. Der Radweg aus der Stadt heraus verläuft an einer Bundesstraße, die schnurgeradeaus führt und einfach kein Ende nehmen will. Schöner Picknickplatz oder auch nur eine Bank? Fehlanzeige!



Lange dauert es, bis die Route wieder einen Verlauf abseits der Verkehrsstraßen nimmt und so kommt es, dass ich schon über 70km unterwegs bin, bis ich mein „Frühstück“ an einem schönen Fleckchen einnehmen kann. Das schmeckt dann allerdings umso besser, denn ich weiß, dass es nur noch ein kurzes Stückchen bis zu meinem heutigen Zielort Winsen an der Aller ist. Hier habe ich ein wunderschönes Hotel mit Restaurant gefunden, aus dem mich heute keiner mehr weg bekommt.


Vorfreude vs. Kriegsstimmung:
Von Winsen nach Lüneburg.
Geschafft! Nach über 500km in 5 Tagen bin ich bei meinen Schwiegereltern bei Lüneburg angekommen. Das ist gleich ein dreifacher Grund, mich zu freuen! Erstens sind die langen, harten Tage der Tour vorbei, ab jetzt werden die Tagesetappen deutlich kürzer. Man könnte auch sagen „Jetzt fängt der Urlaub an“ .
Zweitens ist morgen Ruhetag, auf den ich mich schon gefreut habe. Heute Abend und morgen habe ich nichts vor, außer den Geburtstag meines Schwiegervaters zu feiern und mich von Schwiegermutti mästen zu lassen.
Drittens – und das ist das Schönste! – bin ich ab jetzt nicht mehr alleine unterwegs, sondern mit Kerstin, die hier schon auf mich gewartet hat. Manche genießen es ja, alleine unterwegs zu sein. Für mich ist es erst perfekt, wenn ich die Eindrücke mit einem lieben, vertrauten Menschen austauschen kann. Unsere gemeinsame Tour von Eschborn nach Venedig war diesbezüglich ein traumhaft schönes Erlebnis.
Der Morgen beginnt zunächst mit der üblichen Routine. Schon auf den ersten 10km legt sich aber ein Schatten auf die Tour. Die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen ist ausgeschildert und sorgt für ein bedrückendes Gefühl. Ich mache einen kurzen Abstecher und fahre mit dem Rad auf das ehemalige KZ-Gelände.


Auch wenn ich mir die Zeit zum Besuch des Dokumentationszentrums nicht nehme und nur im weiten Gelände mit den Massengräbern unterwegs bin, ist die Unbekümmertheit der letzten Tage für den Rest der Etappe verloren. 2 Truppenübungsplätze, Bergen-Hohne und Munster liegen auch noch auf meinem Weg. Ich sehe Panzer, die verladen werden und während der langen Fahrt über die Panzerstraße von Munster höre ich in der Ferne die Kanonen donnern.



In „normalen“ Zeiten würde man da wohl stimmungsmäßig drüber weggehen, doch was ist in diesen Zeiten schon normal? (Anm.: Deutschland steht noch unter dem Schock des Ukrainekrieges, der vor nicht einmal 3 Monaten begonnen hat).
Die Stimmung hellt sich erst wieder deutlich auf, als ich nach 88 km in Lüneburg einfahre und Kerstin treffe, die mir von Adendorf aus entgegengefahren ist. Die letzten Kilometer legen wir gemeinsam zurück und freuen uns auf einen langen Abend. Es gibt viel zu erzählen…


