Landsberg – Starnberger See – Lenggriess – Hall in Tirol (A) – Sterzing (I)
Von Landsberg zum Starnberger See
Normalerweise schlafen wir auf der Tour recht früh, aber gestern ist es wegen der Geburtstagsfeier mit der Verwandtschaft spät geworden. Mitternacht war längst vorbei, als wir in unsere Koje gekrochen sind. So geht es heute mit gebremstem Schaum und später los als sonst . Zum Abschied bedauern wir mal wieder, dass man sich so selten sieht und sind gleichzeitig froh, dass wir Landsberg in die Tourenplanung mit einbezogen hatten. Ursprünglich hatten wir vor, weiter östlich durch das Altmühltal zu fahren und dann schon in der Bayrischen Landeshauptstadt auf die Radroute “München – Venezia” zu stoßen.
Durch die Routenänderung steht heute so etwas wie eine „Querpassage“ an. Seit Wertheim sind wir meistens der Radroute „Romantische Straße“ bis Landsberg gefolgt und jetzt wollen wir Richtung Osten rüber auf die Radroute München – Venezia, die ab München zunächst dem Isar-Radweg folgt.
Der Himmel ist bedeckt und wir brauchen eine halbe Stunde, bis wir von der stark befahrenen Landstraße wegkommen. Weiter geht es auf kleinen, kaum befahrenen Landstraßen. War die gestrige Fahrt noch eine Flachetappe, bietet sich uns heute ein ganz anderes Bild. Bewaldete Hügel wechseln sich ab mit grünen Wiesen. Je weiter wir vorankommen, umso bergiger wird es. Bei uns kommt immer mehr Freude auf: die wunderschön hügelige Landschaft und die typische Architektur zeigen uns, dass wir im Alpenvorland angekommen sind.

Wieder einmal spüren wir, dass unsere Art des “entschleunigten Reisens” eine ganz andere Sensibilität gegenüber den Landschaftsveränderungen mit sich bringt, als wenn man mit 150km/h über eine Autobahn fährt. Man sieht nicht nur die Umgebung, sondern nimmt sie mit allen Sinnen wahr. Man kann es riechen, wenn der Acker am Wegrand in eine Blumenwiese übergeht. Genauso spürt man den Temperaturunterschied auf der Haut, wenn man von einem Sonnenhang kommend in einen Wald eintaucht. Man hört je nach Umgebung das Rauschen des Flusses, das Zwitschern der Vögel oder auch einfach nur das leise Surren der Stollenreifen über den Asphalt. Die heutige Etappe bietet das alles!
Verbunden damit ist ein kräftiges Auf und Ab, das zwar ordentlich Körner kostet, aber eine Wohltat im Vergleich zu der epischen, abwechslungsarmen gestrigen Strecke ist. Zudem reißt der Himmel auf, es wird sonnig und warm und – da wir bei der Kleiderwahl wie immer das immer das Prinzip “Zwiebelsystem” verfolgen – verschwinden mehr und mehr Kleidungsstücke in unseren Packtaschen.

Nach etwa 20km fahren wir über einen der zahlreichen Hügel und sehen unter uns den Ammersee. Ein tolles Gefühl! Wir genießen die Landschaft, lassen uns treiben und nehmen uns deutlich mehr Zeit als in den letzten Tagen. Hier noch ein Schlenker an den See, dort noch ein Päuschen am Ufer. Nach dem Ammersee passieren wir den Wörthsee und den Pilsensee. Die Seen sind alle nach der letzten Kaltzeit entstanden, als sich das Schmelzwasser der zurückziehenden Gletscher in der Endmoränenlandschaft gesammelt hat. Die Moränen, diese ehemals kargen Geröllhaufen, sind heute von grünen Wiesen und Wäldern überzogen, prägen zusammen mit ihnen die Postkartenlandschaft und fordern Radfahrer heraus.

Über eine von ihnen müssen wir noch drüber, bevor wir unser Ziel erreichen. Heftig ist die Steigung, die uns aus Seefeld am Pilsensee heraus Richtung Starnberger See führt. Da kommt es gerade recht, dass wir auf dem Anstieg am Schloss Seefeld vorbeikommen, in dessen Innenhof sich ein sehr netter Biergarten befindet. Gestern klappte hinsichtlich der Versorgungslage nichts, heute passt einfach alles. Wir essen eine Kleinigkeit, ich trinke mein mittlerweile beim Einkehrschwung obligatorisches alkoholfreies Weißbier, bevor wir den Rest des Berges hinter uns bringen und in rauschender Fahrt nach Starnberg hinab düsen.

Starnberg liegt am nördlichen Ufer des gleichnamigen Sees, unser Quartier in Skt. Heinrich, am südlichen Ufer, 20 km entfernt. Eigentlich hatten wir nach der gestrigen Feier vor, hier Schluss zu machen, unsere Räder aufs Schiff zu verladen und mit einer gemütlichen Bootstour die Etappe ausklingen zu lassen. Das Wetter – es ist endlich wieder warm und sonnig – sowie die wunderschöne Landschaft haben uns aber so euphorisiert, dass wir uns spontan entschließen, am Seeuferweg weiter zu fahren.


Zunächst sind wir ein wenig enttäuscht, dass das Ufer so zugebaut ist, dass man vom See kaum etwas sieht. Das ändert sich jedoch schnell, als wir dem östlichen Uferweg Richtung Süden folgen. Fast 20 km fahren wir am Ufer entlang, das über weite Strecken frei zugänglich ist. Wir erfreuen uns an den Ausblicken und bestaunen die Villen am See. Zeit für einen Biergartenbesuch haben wir auch noch. Am Abend finden wir ganz in der Nähe unseres Hotels sogar noch eine Strandbar. Wir sitzen mit unseren Getränken im Liegestuhl und verfolgen den Sonnenuntergang. Bis jetzt war die Tour vor allem ein kleines Abenteuer und eine sportliche Herausforderung. Heute fühlt es sich so richtig wie Urlaub an.

Vom Starnberger See nach Fleck bei Lenggries
Die Landschaft, das Wetter und die Aussicht auf eine entspannte Tagesetappe sorgen bereits nach dem Aufstehen für Vorfreude und gute Laune. Wir hoffen auf einen schönen Radtag und letztlich wird diese Hoffnung noch übertroffen, denn es wird ein echter Traumtag.
Doch der Reihe nach…. Eigentlich sollte heute nur eine sehr kurze Etappe anstehen. Von St. Heinrich am Starnberger See bis nach Fleck sind es auf direktem Weg noch nicht einmal 40 km. Da wir aber von der Gegend so begeistert sind, das Wetter mitspielt und uns mittlerweile diese Distanz als Tagesstrecke doch deutlich zu wenig ist, entscheiden wir uns für einen Umweg. Wir fahren in einem größeren Bogen in Richtung Norden, um bereits früher auf die München – Venedig Radroute zu stoßen, als das sonst der Fall gewesen wäre. Eine gute Entscheidung!
Mit üppigem Frühstück im Magen geht es gleich ordentlich bergauf durch einsame Wälder. Die Route habe ich auf komoot.de geplant, sie ist nicht ausgeschildert und wir treffen in der ersten Stunde fast niemanden. Allerdings muss ich aufpassen, dass mir meine Frau nicht durchbrennt. Während ich mich auf der letzten Rille die Steigungen hoch quäle, fährt sie mit E-Bike und breitem Grinsen an mir vorbei. Bei 3 Mountainbike-Alpenüberquerungen in den letzten 20 Jahren ist sie hinter mir her gehechelt. Jetzt kommt die späte Rache. Unser „gemischtes Doppel“ funktioniert aber dennoch erstaunlich gut.
Wir befinden uns irgendwo zwischen Wolfratshausen und Bad Tölz, als plötzlich ein Schild auftaucht: Nach 17km haben wir die Radroute erreicht, der wir ab jetzt folgen werden: München – Venezia!

Wir folgen dem Isarradweg, der zunächst aber nur so heißt. Von dem Fluss selbst ist wenig zu sehen. Er schlängelt sich in einiger Entfernung so wild durch das Tal, dass da kein Radweg mehr Platz hat. Stattdessen fahren wir durch voralpine Bilderbuchlandschaften, wie man sie sonst aus dem Fernsehen kennt und hat stets die Alpen vor Augen. Auf und ab geht es auf Schotterwegen und kleinen Landstraßen fernab des großen Verkehrs.



Bald darauf nimmt der Radweg einen anderen Verlauf und es geht ab jetzt tatsächlich an der Isar entlang, die uns zunächst direkt nach Tölz führt. Es ist Mittagszeit und wir haben nur noch 15 km vor uns. Was also liegt näher als ein kleiner Bummel durch die Stadt? Wir verlassen die Isar bergauf Richtung Marktstraße, die das malerische Zentrum der Stadt bildet. Dabei schieben wir unsere Räder, denn hier ist nicht nur eine Fußgängerzone , sondern auch richtig Trubel. Auch sieht man viele Radfahrer mit Gepäck. Es sind offensichtlich doch sehr viel mehr auf der Radroute unterwegs als angenommen, aber in der weitläufigen Landschaft verliert sich das eher.



Nach einem kleinen Imbiss setzen wir unsere Tour fort, immer weiter flussaufwärts an der Isar und ihren malerischen Schotterterrassen entlang. Wir passieren Lenggries und damit den letzten größeren Ort im Tal der jungen Isar vor dem Sylvensteinspeicher, über den wir am nächsten Tag nach Österreich weiter fahren wollen. Im Ortsteil Fleck, der noch 5 km flussaufwärts liegt, erreichen wir unser heutiges Ziel.




Wir nutzen die frühe Ankunft, um noch einmal ohne Fahrrad die nahe Isar zu erkunden. Sie fließt hier wild hinter einem Wall üppiger Vegetation. Der Weg zu ihr ist nicht ganz einfach zu finden, aber für die Suche werden wir über die Maßen belohnt. Wir finden ein einsames Plätzchen am Ufer, setzen uns auf die Steine und kühlen unsere Füße im eiskalten Gebirgswasser. Hier bleiben wir noch lange sitzen, schweigen und genießen einfach den Moment und die Aussicht. Tolle Landschaft und kein Mensch weit und breit. Das hier könnte auch irgendwo in Kanada sein. Schöner und abwechslungsreicher hätten wir uns den Tag kaum vorstellen können.



Von Lenggries Fleck nach Hall in Tirol
Die morgendliche Routine haben wir nach einer Woche Radtour bereits gut drauf. Bei Tee und Kaffee werden noch Brötchen für unterwegs geschmiert. Dann wird das Hotel bezahlt, Packtaschen montiert und Akku eingesetzt. Wir sind eingespielt, jeder Handgriff sitzt und ruckzuck ist aufgesattelt.
So geht es um neun auf die Piste, denn es steht mal wieder ein langer Tag an. Heute wollen wir Deutschland hinter uns lassen und weiter ins Inntal nach Hall bei Innsbruck. Dazu folgen wir zunächst der Isar flussaufwärts. Vor unseren Augen erheben sich die Berge des Karwendels und lassen keinen Zweifel daran, dass wir uns wieder an der Schwelle zu einem anderen Naturraum befinden. Die liebliche Landschaft des Voralpenraumes hinter uns lassend, nehmen wir Kurs auf den Alpenhauptkamm.


Das merken wir auch am Streckenprofil. Geht es die ersten 10km bis zum Sylvensteinstausee noch recht moderat dahin, wird es danach deutlich bergiger. Der Radweg verläuft teilweise an der Straße und weicht zwischendurch immer wieder ins Gelände aus. Dann wird es knackig. Giftige, schotterige Anstiege wechseln sich mit ebensolchen Abfahrten ab, wobei die Tendenz stetig nach oben zeigt. Schließlich müssen wir erst mal auf knapp 1000 m aufsteigen. Anders als bei gleichmäßigen Auffahrten will kein richtiger Rhythmus aufkommen und das Ganze ist kräftezehrender als es die nackten Höhenmeter vermuten lassen.
Nach etwa 20 km passieren wir die grüne Grenze zu Österreich. Zunächst merken wir nichts davon. Erst als wir Kilometer weiter an der Straße die Grenzstation sehen, wird uns so richtig bewusst, dass wir Deutschland schon hinter uns gelassen haben.



Nach 30 km anstrengender Fahrt erreichen wir endlich den Achensee und ab jetzt gibt es keine nennenswerten Steigungen mehr. Der See liegt auf über 900m üNN und bettet sich malerisch in das Bergpanorama ein. Der strahlend blaue Himmel spiegelt sich auf seiner Oberfläche und weiße Segelboote lockern spielerisch das Bild auf. Einige Unerschrockene planschen bereits im Wasser, das aufgrund der Höhe und teilweise von Schneeschmelze gespeist auch im Hochsommer kaum mehr als 16-20° erreicht.

Am Ufer des Sees gibt es einige Bänke, ein idealer Ort also für unsere Frühstückspause. Wir packen die Brötchen aus und genießen den Ausblick. Vor uns liegt ein echtes Idyll, zumindest so lange wir unsere Blicke nicht über die nahe Bundesstraße schweifen lassen. Bereits am Vormittag ist hier schon die Hölle los. Es ist Samstag und das schöne Badewetter hat eine ganze Blechlawine auf den Weg geschickt.
Nach einigen Kilometern, die wir am Ufer entlang radeln, steht die Abfahrt ins Inntal an. Von 980m geht es runter auf gut 500. Normalerweise könnte man es da mal so richtig krachen lassen und sich für den langen Aufstieg belohnen. Hier geht das leider nicht. Da wir die verkehrsreiche Bundesstraße meiden und dem Radweg weiter folgen, steht eine heftige Abfahrt auf einem steilen Schotterweg an, der im Winter als Rodelbahn fungiert. Entsprechend eng sind die Kurven, die zusammen mit dem Gefälle volle Konzentration fordern, vor allem für Kerstin mit dem schweren Gepäck. Lockeres Runterrauschen läuft leider nicht. Schade um die schönen Höhenmeter! Allerdings bieten Landschaft und Ausblick ins Inntal und die auf der anderen Seite liegenden Zillertaler Alpen mehr als ein Trostpflaster.

Im Tal angekommen, merken wir erst, wie schwül-warm es ist und dass der Tag bereits einige Spuren hinterlassen hat. Die Hitze drückt, als wir auf den Inntalradweg einbiegen. Hier sind wir schon einige Male bei früheren Alpenüberquerungen lang gefahren und trotz des schönen Ausblicks empfinden wir das Fahren in der Ebene am Fluss entlang eher als monoton, gerade weil uns die Strecken der letzten Tage so verwöhnt haben. Ich sehne mich nach meinem alkoholfreien Weizen. Ich weiß nicht, wie viele Liter davon ich auf der Tour schon abgepumpt habe, aber vermutlich wurde in allen Brauereien an der Strecke die Produktion schon hochgefahren.
Wir finden ein Cafe an der Strecke, wo uns der Wirt fragt, wo wir herkommen und wohin wir wollen. Als wir Start und Ziel nennen, schüttelt er grinsend den Kopf und sagt: „Die Leit wern immer verrückter“. Wir nehmen das als Kompliment und fahren umso motivierter weiter.
Bis Hall sind es noch über 20 km, immer am Inn mit seiner einzigartigen grünen Farbe entlang. Auf der rechten Seite flankieren uns die Kalkalpen mit Rofan und Karwendel. Links türmt sich der Alpenhauptkamm mit Tuxer- und Stubaier Alpen auf. Der Anblick macht demütig, besonders bei dem Gedanken, dass wir da morgen drüber müssen.
Von Hall über den Brenner nach Sterzing
War es zu Beginn unserer Reise noch so, dass wir morgens immer etwas angespannt waren, weil wir nicht wussten, was der Tag so bringt und ob wir fit genug sind, das gesetzte Ziel zu erreichen, hat sich das nach spätestens einer Woche und den ersten langen Etappen gelegt. Wir trauen uns mittlerweile einiges zu und gehen die täglichen Herausforderungen ziemlich entspannt an.
Heute ist das allerdings anders. Wir müssen über den Alpenhauptkamm und haben uns dafür die Brenner-Route ausgewählt. Der Gedanke daran lässt schon vor der Tour den Puls ansteigen, denn es stehen doch einige Höhenmeter an, auch wenn der Brenner zu den am leichtesten zu bewältigenden Überquerungen gehört. Zwei weitere Umstände sorgen für die innere Unruhe: Spätestens ab Mittag ist Regen gemeldet mit Unwetterpotential.
Wenige Wochen vor unserer Abfahrt war die schwere Katastrophe im Aartal. Die Bilder in unseren Köpfen sind noch recht frisch. Auch wenn der Wetterbericht ein Unwetter dieses Ausmaßes nicht erwarten lässt, gibt es dennoch ein mulmiges Gefühl. Im Gebirge ist man den Naturgewalten doch ganz anders ausgesetzt als in unserer Heimat. Der Stimmung wenig zuträglich ist auch, dass wir einen großen Teil der Strecke bis zur Passhöhe auf der Straße zurücklegen, die letzten Kilometer sogar auf der alten Brenner Landstraße, wo ordentlich was los ist und u.a. all diejenigen unterwegs sind, die sich die Maut sparen wollen.
Die Wetteraussichten setzen uns unter Druck und wir wissen, dass heute kein relaxtes Bummeln angesagt ist. Für die Südseite der Alpen sind die Prognosen besser, also sollten wir schnellstmöglich über den Buckel kommen.
Wir brechen deshalb bei Zeiten auf und umfahren Innsbruck auf der Landstraße über Ampass und Adtrans. Es geht steil bergauf. Ich fühle mich überhaupt nicht fit. Kein Druck in den Beinen, der Rücken schmerzt und der Hintern ebenso. Schon gestern habe ich gespürt, dass die 9 Radtage ihre Spuren hinterlassen haben. Heute, am 10. Tag ist es noch schlimmer. Kerstin flitzt immer wieder mit dem E-Bike wie ein Wiesel an mir vorbei und wartet dann irgendwo wieder, während ich mich weiter quäle. Nach einer guten Stunde erreichen wir das Olympiazentrum am Berg Isel. Hier befinden sich der Eiskanal und auch die Abfahrtsstrecke von Innsbruck. Wir sind jetzt etwa auf knapp 1000m. Ich habe einen Schnitt von kaum 10 km/h und jede Kurbelumdrehung fällt mir schwer.
Gestartet sind wir auf etwa 570 Höhenmetern und die Passhöhe liegt auf 1370 Höhenmetern. Man könnte also meinen, dass man am Isel schon die Hälfte der Anstrengung hinter sich hat, aber weit gefehlt! Eine Stunde später sind wir immer noch auf 1000m, aber wer denkt, dazwischen liege eine Flachetappe, täuscht sich gewaltig! Die Radroute parallel zur Brennerautobahn und Landstraße kennt keine aufwendigen Brückenbauwerke oder Tunnels. Sie passt sich der Landschaft an und führt immer wieder hoch und runter.
Quälende Aufstiege und rasante Abfahrten wechseln sich immer wieder ab. In Matrei am Brenner, fast 20 km später sind wir wieder auf unter 980 Höhenmetern, haben also in der Gesamtbilanz nichts gewonnen, aber ordentlich Körner gelassen. Trotzdem geht es mir mittlerweile deutlich besser. Die Abwechslung tut Rücken und Hintern gut und auch sonst habe ich das Gefühl, besser in Rhythmus zu kommen, auch wenn es inzwischen angefangen hat, leicht zu regnen.
Im Tal unter uns schlängelt sich die alte Brennerstraße und an der anderen Talseite weit über uns die Autobahn. Dort gibt es kein „Hoch und Runter”. Riesige Brückenpfeiler und andere Bauwerke sorgen dafür, dass sie sanft und einigermaßen gleichmäßig den Weg zur Passhöhe findet. Mehr als ein Viertel der Autobahn verläuft auf Brücken und die größte Steigung beträgt gerade einmal 6,1%. Das Bild, das dieses straßenbautechnische Jahrhundertwerk abgibt, ist gleichzeitig beeindruckend, imposant und von monumentaler Scheußlichkeit. Selten ist wohl eine Gebirgslandschaft durch eine Baumaßnahme mehr verschandelt worden als hier.
Wir freuen uns, dass wir die Möglichkeit haben, den größten Teil der Strecke weit ab vom großen Verkehr fahren zu können. Beim Start am Morgen hatten wir uns noch die Möglichkeit offen gelassen, früher als nötig auf die alte Brennerlandstraße zu wechseln. Man fährt dann zwar im Verkehr mit, ist dafür aber deutlich schneller unterwegs. Immer wenn wir der Landstraße nahe kommen und die Möglichkeit hätten, entscheiden wir uns dann aber doch anders. Die anstrengende Routenführung nehmen wir gerne in Kauf, wenn wir dafür nur dem Verkehr fernbleiben können. Auch hält sich das Wetter noch einigermaßen. Schön ist es nicht, aber nach großem Unwetter schaut es auch nicht aus.

Kurz hinter Steinach gibt es dann aber keine Routenalternativen mehr: Wir müssen auf die Landstraße. Immer noch bewegen wir uns auf gut 1000 Höhenmetern und haben auf den letzten 8km noch über 400 Höhenmeter vor uns. Ich bin ziemlich platt und mein hinterer Umwerfer wandert peu a peu in Richtung größtes Ritzel, in Radfahrerkreisen auch “Rentnerscheibe” genannt. Durch werde ich immer langsamer und das Fahrverhalten schon etwas instabil. Im Gelände oder auf Radwegen macht einem das nichts aus aber hier auf der Landstraße ist es unangenehm, da jede Menge Autos und Motorräder dicht an einem vorbei fahren.
Das Ganze passiert in Wellen. Oft ist es wenige Minuten ruhig bzw. es düsen nur ein paar Mopedfahrer an einem vorbei. Dann weiß ich schon, dass sich der Rest des Verkehrs wieder hinter einem Wohnmobil staut. Wenn mich die Wohnmobile dann mit überholen, ziehen sie regelmäßig einen riesigen Rattenschwanz an übrigem Verkehr hinter sich her, der sich an mir vorbei quetscht.
Kerstin hat damit ein deutlich geringeres Problem. Hier zeigen sich die Vorteile des E-Bikes. Flott schraubt sie sich die Serpentinen hinauf und hält an geeigneten Stellen dann immer mal wieder an, um auf mich zu warten. Dabei macht sie dann Fotos, auf denen ich weit unten in der Ferne nur als kleiner Punkt zu erkennen bin und postet in die WhatsApp-Gruppe “Peter kommt später”. Ich muss schon sagen, die (technische) Überlegenheit kostet sie ganz schön aus…
Irgendwann ist es dann endlich soweit: nach einer gefühlten Ewigkeit aber objektiv nur 46 km haben wir den Brenner erreicht. Auf dem Übergang ist alles voller Autos. Es herrscht das reinste Verkehrschaos, vermutlich auch weil sich hier ein Outlet-Center mit über 70 Marken befindet, das Touristen von nah und fern anzieht. Auf uns übt die Shoppingmall aus naheliegenden Gründen keine Anziehungskraft aus. Kerstin meint lediglich, sie könne sich ja noch einen vierten Slip zulegen. Den würde sie sogar noch in der Packtasche unterbringen.
Der Grenzübergang am Brenner ist vermutlich der hässlichste Ort, den wir bisher auf der gesamten Tour zu Gesicht bekommen haben, aber wir sind glücklich! Am Grenzstein werden sofort Fotos gemacht, denn er ist für uns gleichzeitig auch ein Meilenstein. Egal, wie die Tour weiter verläuft, wir haben Italien erreicht und das mit dem Rad von Eschborn aus!


Das schöne an langen Aufstiegen ist ja, dass es meistens danach auch irgendwann mal richtig runter geht. So ist es auch heute. Wir wurschteln uns durch den Verkehr, bis uns gleich nach der Passhöhe ein Schild den Weg zum Radweg Richtung Sterzing weist. Endlich verlassen wir wieder die Landstraße und landen auf einer ehemaligen Bahntrasse, die zwischenzeitlich fein asphaltiert zum Radweg umgebaut wurde und bis ins Etschtal führt. Radwege auf alten Schienenstrecken haben immer einen besonderen Reiz. Da Eisenbahnen – von Zahnradbahnen einmal abgesehen – keine großen Steigungen bewältigen können, sind auch die Strecken entsprechend trassiert. In Deutschland gelten schon Steigungungen jenseits der 4% als Steilstrecken, für deren Befahrung besondere technische Voraussetzungen gegeben sein müssen. Um die Neigung auf der Strecke möglichst gering zu halten, wurden aufwendige Werke wie Tunnel und Brücken gebaut. Ein Aufwand, den man wohl kaum für den Bau von Radwegen betrieben hätte, uns Radfahrern aber heute zunehmend zugutekommt.


Diese Art von Radwegen kommt einem besonders beim Aufstieg gelegen, aber auch bei der Abfahrt bieten sie einen besonderen Genuss. Man ist völlig stressfrei unterwegs, weil die Kurvenradien großzügig bemessen sind und das Gefälle so bemessen ist, dass man es einfach rollen lassen kann. Auch bei uns wandert die Kette wieder nach rechts aber die meiste Zeit lassen wir die Räder ohne Tritt einfach laufen. Wir genießen den Ausblick ins Eisacktal, der lediglich bei den Tunneldurchfahrten immer mal eingeschränkt wird. Schon bald erreichen wir Sterzing und freuen uns auf die nächsten Tage in „Bella Italia“.

In der Nacht werden wir durch den Regen geweckt, der auf das Pflaster vor unserem Hotelfenster prasselt. Laute Donner lassen uns zusammenzucken. Hagelkörner färben die Straße weiß und wenn es blitzt, wird es taghell. Ein Glück, dass uns das nicht auf dem Rad erwischt hat! Als wir am Morgen aufstehen, scheint dann wieder die Sonne, so wie wir das von Italien kennen. Wenn an dem Spruch “wenn Engel reisen, lacht der Himmel” etwas dran wäre, würde uns permanent ein Heiligenschein schmücken.