Das Abenteuer beginnt

Eschborn – Seligenstadt – Wertheim – Rothenburg ob der Tauber

Von Eschborn bis nach Seligenstadt

Die Spannung steigt. Am Morgen habe ich die Räder nochmal durchgecheckt und dabei gleich schon mal einen kleinen Schock bekommen. Mein MTB steht – optisch ziemlich unmotiviert, was die Aufgaben der nächsten Tage angeht –  auf der Felge. Ich kann es kaum nachvollziehen, gestern war der Reifen noch prall gefüllt und seitdem bin ich nicht mehr gefahren. Vermutlich haben die 3 Bar, die ich drauf gegeben habe, um einen möglichst geringen Rollwiderstand zu haben, ein altes Loch wieder aufreißen lassen. Der erste Platte schon bevor die Tour überhaupt angefangen hat. Das kann ja heiter werden! 

Ich fahre beim MTB schlauchlose Reifen, die bei kleineren Undichtigkeiten lediglich durch das Befüllen mit einer Dichtungsmilch “geflickt” werden. Also Ventil abschrauben, Dichtungsmilch einfüllen, Reifen aufpumpen, kleine Probefahrt damit sich die Milch gut im Inneren verteilt und dann noch ein Stoßgebet losschicken, dass das Ganze die nächsten 2 Wochen und rund 1.100 km hält. 

Nach dem Check steht das Beladen an. Mein Mountainbike bewahrt sich seine schlanke Figur. Vorne eine kleine Lenkertasche für die Dinge, auf die man während der Fahrt schnell zugreifen möchte, dazu eine kleine Rahmentasche, in der ein wenig Werkzeug sowie ein Trinkbeutel untergebracht ist. Größtes Gepäckstück ist eine 10 Liter fassende Tasche, die (mangels Gepäckträger) direkt am Sattel befestigt wird, hinter diesem schräg in die Höhe ragt und aufgrund dieser Optik in der Bikerszene auch gerne “Arschrakete” genannt wird. Hierin befinden sich all die Dinge, die ich gegebenenfalls unterwegs brauche: Regenjacke, Arm- und Beinlinge, Weste, Windbreaker, weiteres Werk- und Flickzeug usw.

Kerstins Rad erinnert eher an einen der Elefanten, die Hannibals Alpencross ermöglichten. Am Gepäckträger hängen zwei große Seitentaschen und darauf noch eine große Rolltasche. Fahrrad und Gepäck dürften zusammen etwa 45kg auf die Waage bringen, bei mir sind es unter 20 kg.  Kerstins Bike ist ganz klar der Packesel, aber dafür ist es ja auch ein E-Bike. 

Gegen 14:00 Uhr geht es endlich los. Wir fahren durch die Nachbarschaft auf das angrenzende Feld und radeln auf meiner Laufstrecke, die ich in den letzten Jahren hunderte Male zurückgelegt habe. Hier kenne ich jeden Strauch und trotzdem fühlt es sich heute ganz anders an. Schon bald weicht die innere Angespanntheit, die uns den ganzen Tag begleitet hat, einem Gefühl der Leichtigkeit. Wir freuen uns, endlich unterwegs zu sein und konzentrieren uns auf das Hier und Jetzt. Alles andere rückt immer mehr in den Hintergrund. 

Los geht die Tour durch die Felder Eschborns mit Blick auf die Frankfurter Skyline. Wir sind hier fast täglich unterwegs, aber heute fühlt es sich ganz anders an.

Schon nach wenigen Minuten überqueren wir die Stadtgrenze von Frankfurt. Wir tauchen ein in den Niddapark, der von Rad- und Gehwegen durchnetzt ist und so dauert es nicht lange, bis wir der ersten Radfahrerin begegnen, die ebenfalls Gepäck mit sich führt. Nebeneinander her fahrend kommen wir ins Gespräch. Sie ist Frankfurterin, war zwei Tage an der Nidda unterwegs und fragt uns, wohin wir noch wollen. “Nach Venedig” entgegnet Kerstin souverän und die Tonlage lässt keinen Zweifel zu, dass sie es ernst meint “aber heute geht es erst mal bis Seligenstadt”. “Na, da habt ihr aber was vor!” staunt die Kollegin. Sie ist offensichtlich beeindruckt und ein wenig sind wir selbst es auch…

Es ist Freitagnachmittag, kurz vor vier Uhr. Rush Hour in Frankfurt, nicht unbedingt ein Vergnügen für Radfahrer. Wir schlängeln uns durch den Verkehr Richtung Alte Oper. Kerstin ist noch etwas unsicher. Sie fährt noch nicht lange E-Bike. Schon das Gewicht des Fahrrads ist doppelt so hoch wie das ihres Mountainbikes und jetzt kommen noch fast 20kg Gepäck dazu. Auf gerader Strecke und gut ausgebauten Radwegen ist das kein großes Problem, aber hier im dichten Stadtverkehr muss man sich noch daran gewöhnen. 

Bald danach haben wir den Mainuferweg erreicht. Er soll uns die nächsten beiden Tage begleiten. Wir sind weg vom Autoverkehr und müssen uns auch nicht mehr auf die Orientierung konzentrieren, da der Weg direkt zu unserem heutigen Ziel führt. Wir durchqueren Offenbach mit seinem neuen Hafenviertel und das Radeln auf dem Mainuferweg wird jetzt deutlich entspannter.

Mit jeder Kurbelumdrehung merken wir, dass wir uns dem Ballungsraum weiter entfernen. Es sind weniger Menschen auf der Route unterwegs und die Natur wird zunehmend präsenter. Hin und wieder gibt es kleinere Buchten, an denen die Landschaft einen schönen Zugang zum Fluss zulässt und die Menschen dies für kleine Treffen mit Picknick nutzen. Wir sind kaum eine halbe Stunde von Frankfurt entfernt, aber die Atmosphäre ist mit der der Mainmetropole nicht mehr vergleichbar. 

Nur wenige Kilometer mainaufwärts ist von der Hektik der Großstadt nichts mehr zu spüren.

An einem dieser Plätze machen auch wir Rast und nutzen die Gelegenheit uns ein wenig zu “reseten”. Einiges muss sich noch ein wenig einschleifen. Die flache Strecke, der gute Fahrbahnbelag und die pure Lust am Radeln, die sich auf den letzten Kilometern eingestellt hat, führen dazu, dass ich manchmal schneller fahre als 25 km/h, zumal uns der Wind wohlgesonnen ist und leicht von hinten schiebt.

Kerstin allerdings hat damit ein Problem. Ihr E-Bike regelt gesetzeskonform bei 25km/h ab und verweigert darüber hinaus jegliche Unterstützung. Ab 26 km/h muss sie die knapp 50kg Rad und Gepäck mit schierer Muskelkraft nach vorne wuchten. Dann steht ihr der Schweiß auf der Stirn während ich noch “La Paloma pfeife”. Da wir seit über 20 Jahren eine harmonische Beziehung führen und das auch nach der Radtour so bleiben soll, lass ich mich an die Kandare nehmen. Außerdem baue ich so auch für die nähere Zukunft vor, denn ich weiß, dass sich die Verhältnisse in den Bergen umkehren und ich sie an den Steigungen nur noch von hinten sehen werde.

Nach knapp 50 km erreichen wir am frühen Abend Seligenstadt. Bevor wir die Fahrräder auf dem Weg zu unserem Hotel die letzten Meter schieben, belohnen wir uns noch mit einem köstlichen Eis für den erfolgreich gemeisterten ersten Radtag, wohl wissend , dass die heutige Etappe eher ein “lockeres Warmfahren” war und in den nächsten 2 Wochen ganz andere Herausforderungen auf uns warten. Aber das Eiscafe “Maintor”, vom Mainuferweg aus direkt am Zugang der Altstadt gelegen, ist über die Stadt hinaus bekannt und einfach zu gut, als dass man einfach so daran vorbeifahren könnte.

Nachdem wir im Hotel eingecheckt und geduscht haben, bummeln wir noch ein wenig durch die malerische Altstadt. Kaum zu glauben, dass wir hier noch am Rande des Rhein-Main-Gebietes sind. Das mittelalterliche Flair mit Basilika, Benediktiner Kloster und Klostergarten lassen bei uns das Gefühl aufkommen, wir befänden uns längst im tiefsten Bayern.

Der Klostergarten in Seligenstadt. So nah an Frankfurt und gefühlt doch schon eine andere Welt.

Am Main entlang von Seligenstadt nach Wertheim

Die Nacht ist nicht besonders erholsam. Unser Hotel mitten in der Altstadt von Seligenstadt ist eigentlich ganz schön und das dazugehörige Restaurant erfreut sich offensichtlich auch größter Beliebtheit. Dementsprechend voll ist der große Bereich der Außengastronomie, der sich genau unter unserem Hotelzimmer befindet. Da es keine Klimaanlage gibt und es sehr warm ist, würden wir bei offenem Fenster schlafen, wenn wir denn schlafen würden.

Daran ist aber nicht zu denken, jedenfalls nicht so lange der Restaurantbetrieb läuft. Als der dann gegen Mitternacht endlich eingestellt ist, tritt mit schöner Regelmäßigkeit ein anderes Geräusch in den Vordergrund. Beim Einzug in das Hotel fanden wir es noch sehr romantisch, dass wir direkt auf den großen Kirchturm blicken, der so etwas beruhigend Gemütliches ausstrahlte.

Damit ist es jetzt vorbei. Der regelmäßige Glockenschlag, der immer exakt dann einsetzt, wenn ich im Begriff bin, weg zu nickern, kommt mir jetzt eher wie ein Folterinstrument aus Zeiten der Inquisition vor. Jede Viertelstunde erst ein Schlag, dann zwei, dann drei. Zur vollen Stunde zunächst 4 Schläge mit der ziemlich nervigen Glocke, bevor die besonders nervige dann nochmal die Stundenzahl zum Besten gibt. Man muss schon verdammt tief im Glauben stehen, um das als Zeichen Gottes aufzunehmen…

Die Seligenstädter Altstadt mit dem vermaledeiten Kirchturm. Was so idyllisch aussieht kann einem nachts gewaltig auf den Senkel gehen!

Müde fühlen wir uns am Morgen aber dennoch nicht. Zu groß ist die Aufregung vor unserer ersten großen Etappe. Zwischen 90 und 100 km sollen es heute sein. Eigentlich wollten wir mit einem viel besseren Fitnessstand auf Tour gehen. Wollten viele lange Tagestouren, möglichst mit Gepäck, auf dem Konto haben. Aber wie das halt immer so ist… Im Mai haben wir uns mit Rocky wieder einen kleinen Hundewelpen angeschafft und der kleine süße Quälgeist hat uns doch viel stärker in Beschlag genommen als wir erwartet hatten. So blieb es bei einigen Pendlerwegen von 14 km von und zur Arbeit sowie Kurztouren im Taunus, die selten wesentlich über 2 Stunden Dauer  hinausgingen. Dies vor Augen flößen uns die 90-100km, die heute anstehen, durchaus einen gehörigen Respekt ein, auch wenn die Strecke flach ist und durchgängig dem Main weiter folgt.

Wir wachen bereits vor dem Klingeln des Weckers auf, vermutlich hätten wir ihn durch das Glockenläuten ohnehin nicht gehört. Der Himmel ist wolkenlos und es soll einer der wärmsten Tage des Jahres werden. Deshalb beschließen wir, ohne Frühstück aufzubrechen und die angenehme Kühle des Morgens schon mal zu nutzen, um ein paar entspannte Kilometer zurückzulegen. Wir packen zusammen, füllen unsere Getränkeflaschen am Wasserhahn auf und nehmen Kerstins E-Bike-Akku vom Netz, den wir über Nacht nachgeladen haben. Dann schleppen wir das Ganze in den abgeschlossenen Hinterhof des Hotels, in dem unsere Bikes untergebracht sind. Der erste Blick gilt meinem Hinterrad. Nichts Auffälliges zu sehen. Dann ein fester Druck auf den Mantel: bombenfest! Von Plattem keine Spur.!

Das morgendliche Aufsatteln geht noch etwas beschwerlich von der Hand. Wir überlegen, in welchen Taschen welche Klamotten untergebracht werden. Das Einbauen des Akkus ist noch ziemlich fummelig, ebenso das Sichern des Gepäcks. Im Laufe der nächsten beiden Wochen werden wir da noch viel mehr Routine bekommen. 

Gegen 8:00 Uhr sitzen wir schließlich auf unseren Böcken und biegen nach kurzem Weg durch die Seligenstädter Altstadt auf den Mainuferweg ein. Nach der Nacht in dem stickigen Hotelzimmer genießen wir angenehm kühle Luft. Außer ein paar Hundehaltern,  die ihre Liebsten Gassi führen, scheint noch niemand unterwegs zu sein. Wir haben den Radweg fast für uns alleine, die Morgensonne scheint uns ins Gesicht, es ist windstill  und außer dem Surren unserer Reifen herrscht absolute Ruhe. Noch fühlt es sich an, als ob die Räder von alleine Rollen. Wir sind im Flow  und zum ersten Mal stellt sich so etwas wie Euphorie ein.  Vor 24 Stunden saßen wir noch angespannt zuhause. Jetzt kommt es uns vor, als seien wir schon ewig unterwegs und zuhause ganz weit weg. 

Schloss Johannisburg in Aschaffenburg

Nach einer knappen Stunde erreichen wir Aschaffenburg. Über dem Main thront als Wahrzeichen der Stadt das imposante Schloss Johannisburg, das gerade in der schräg stehenden Morgensonne ein sehr beeindruckendes Bild abgibt. 

Wir folgen dem Main weiter bis nach ca. 30 km unsere Mägen langsam zu knurren anfangen. Bei Kerstin hat ein solcher Zustand schnell einen massiven Stimmungswandel zur Folge, es ist also Gefahr im Verzug. Wir verlassen den Uferweg und machen einen kurzen Abstecher nach Obernburg, wo wir schnell eine Bäckerei mit vielen Leckereien finden. 

Wir verstauen den Einkauf notdürftig in unseren Taschen und fahren zurück ans Flussufer, auf der Suche nach einem schönen Picknickplatz, der sich uns auch bald auftut. Ein wenig versteckt hinter Bäumen, vom Radweg eher schwer einsehbar, finden wir eine kleine Bucht, die sich jedem Maler der Romantik als lohnendes Motiv angeboten hätte. Ein umgestürzter Baum am Ufer bietet eine ideale Sitzgelegenheit, auf der wir mit Blick auf den Fluss unsere Brotzeit einnehmen können. Nichts gegen einen netten Frühstücksraum im Hotel, aber das hier hat doch eine andere Qualität!

Nachdem der Hunger fürs Erste gestillt ist, geht es wieder auf die Räder. Wir haben noch viel vor uns und es wird auch immer wärmer. Die Landschaft hat sich auf den knapp 100km, die wir jetzt am Main entlang fahren, deutlich verändert. War das Rhein-Main-Gebiet noch sehr flach und der Fluss spielte im gesamten Landschaftsbild eine eher untergeordnete Rolle, so steht er hier eindeutig im Mittelpunkt. Tief hat er sich in die Landschaft eingegraben und die flankierenden Hänge  sind gespickt mit Weinstöcken. Wir sind in der Heimat des Frankenweins angekommen, des bis ins späte Mittelalter größten Weinbaugebiets nördlich der Alpen. Hier wurde mehr Wein angebaut als an Mosel und Rhein zusammen.

Gegen Mittag erreichen wir Miltenberg, mit Sicherheit kein Ort, der es zulässt, einfach daran vorbei zu fahren. Dafür ist die Stadt einfach zu schön. Das wissen offensichtlich viele, so dass in der Altstadt ordentlich was los ist. Die Gastronomie ist darauf eingestellt, es reiht sich Restaurant an Kneipe und Cafe. Alle haben bei schönstem Wetter ihre Tische und Stühle im Außenbereich aufgestellt. Wir haben mit über 60 km schon 2 Drittel der geplanten Tagesetappe hinter uns, es spricht also nichts gegen eine weitere Pause, um mit Cappuccino, Wasser und alkoholfreiem Bier die Reserven wieder aufzufüllen. Für den Rest des Tages können wir es uns leisten, ganz entspannt weiterzufahren und wenn sich die Gelegenheit ergibt, noch den ein oder anderen “Stopp mit Aussicht” zu machen.  

So ist es ein lockeres Dahingleiten, bis wir an den Punkt kommen, wo vor uns die Häuser unseres Zielortes  auftauchen, und über ihnen die Burg Wertheim. Nach dem Check-In bleibt uns noch viel Zeit, um die Stadt zu erkunden und einen Spaziergang auf die Burg zu machen. Im Hof der hoch über der Stadt gelegenen Festung gibt es einen Biergarten, von dem aus man einen sehr schönen Überblick über die Stadt und das Umland hat. Mit einem kühlen Radler an den Lippen schaue ich das Taubertal hinauf und bin freudig gespannt auf das, was uns wohl dort am nächsten Tag erwarten wird.

Durch’s liebliche Taubertal von Wertheim nach Rothenburg

Schon beim Einchecken im Hotel haben wir das Gefühl, dass uns wieder eine unruhige Nacht bevorsteht. Die Straße, die direkt am Hotel vorbeiführt, ist stärker befahren als angenommen. Auf der Karte sah das irgendwie anders aus. Die zarte Hoffnung, vielleicht doch noch ein Zimmer “nach hinten raus” zu bekommen, wird im Keim erstickt. “Leider nichts zu machen, wir sind ausgebucht” heißt es lapidar an der Rezeption. Wie ausgebucht, sehen wir, als wir unser Zimmer betreten. Es ist klein, stickig und der Straße zugewandt.

Vor dem einzigen Fenster befindet sich ein Lüftungsschacht, durch den  wir mit den Aromen der Hotelküche beglückt werden. Das Bett ist so schmal, dass man zu zweit die Nacht vorzugsweise in der “Löffelchen-Haltung” verbringen und auch Bewegungen aller Art nur synchron durchführen sollte. Das hat sicherlich in manchen Lebens- und Liebesphasen seinen Reiz, in unserem Alter und nach über 20 Ehejahren hält sich die Begeisterung allerdings in Grenzen. 

Auf Nachfrage im Hotel erklärt man uns, dass das Zimmer eigentlich ein Einzelzimmer sei. Die Hotelplattformen würden allerdings immer mehr Buchungen aufnehmen, als tatsächlich Kapazitäten zur Verfügung stünden, in der Annahme, dass da eh noch Leute abspringen. Dadurch käme es mitunter zu solch bedauerlichen Situationen. Das hilft uns nicht wirklich weiter, aber ok, irgendwie wird es schon gehen…

Wie genau, das zeigt sich im Laufe der Nacht. An einen ruhigen Schlaf ist nicht zu denken. Eine Lösung zeichnet allerdings ab, als wir bemerken, dass selbst in diesem winzigen Bett 2 Matratzen untergebracht sind. Sie sind unterschiedlich breit, die schmalere hat maximal 60cm. Die baue ich aus und ziehe mit ihr ins Bad um, da im “Wohnraum” nicht genügend Platz ist. Zwischen Kloschüssel und Duschkabine verbringe ich den Rest der Nacht, nicht angenehm, aber weitaus besser als zuvor.

Nach der Horrornacht geht es am Morgen ziemlich gerädert auf dieselben. Vor uns liegt mit geplanten 100 km und 800 HM schon so etwas wie eine Königsetappe. Unsere Tourenplanung sieht vor, dass wir am Anfang ordentlich km schrubben. In Südtirol und Venetien wollen wir uns dann sehr viel mehr Zeit für Landschaft und Dolce Vita nehmen. 

Im Hotel hat man uns Plastikbeutel zur Verfügung gestellt, damit wir unser Frühstück einpacken können. Die Strategie des gestrigen Tages, zunächst einige Kilometer hinter uns zu bringen, bevor wir an einem schönen Plätzchen das Frühstückspicknick einnehmen, hat sich bewährt.

Die Tauber in Wertheim vor ihrerMündung in den Main.

Wir starten bei Kaiserwetter und schon die ersten Kilometer lassen die Strapazen der letzten Nacht vergessen. Etwa 140 km sind wir bisher am Main entlang gefahren. Jetzt verlassen wir ihn und folgen der Tauber, deren Flusstal uns ein ganz anderes Bild bietet. Eng ist es und in üppige Vegetation eingebettet. Die Radroute schlängelt sich in vielen Kurven und in ständigem Auf und Ab durch das schmale Tal. Links und rechts der Strecke steile, bewaldete Hänge.  Für uns ist es sicherlich der abwechslungsreichste und einer der schönsten Streckenabschnitte, die wir bisher kennenlernen durften. 

Noch sind kaum Radfahrer unterwegs und wir halten immer wieder kurz an, machen Fotos und genießen die Landschaft. Nach etwa 30 Kilometern – das Tal ist mittlerweile schon recht breit und hat einen ganz anderen Charakter –  erreichen wir Tauberbischofsheim. Wir finden ein schönes, ruhiges Plätzchen an einer kleinen Grünanlage am Rande der Altstadt in der Nähe des Schlosses. Ein alter Wehrturm und ein “Krötenbrunnen” ergänzen die Kulisse. Bänke stehen auch da, kurzum: der perfekte Ort für unser Frühstück.

Frisch gestärkt geht es weiter flussaufwärts über Bad Mergentheim bis Weikersheim. Mittlerweile haben wir fast 70 km hinter uns und das Ganze wird doch schon etwas beschwerlich. Das schwül-heiße Wetter und die inzwischen aufgebrauchten Trinkvorräte haben aus dem “lieblichen” Taubertal des Tourismusmarketings doch ein ziemlich anstrengendes gemacht. Auf dem Marktplatz im Schatten der Pfarrkirche nehmen wir Platz, essen die beiden restlichen Frühstücksbrötchen und füllen unsere Trinkflaschen wieder auf.

Auf dem Marktplatz von Weikersheim

Wir beschließen, nicht all zu lange zu pausieren sondern stattdessen noch bis Credlingen zügig weiterzufahren. Von dort dürften es nur noch gut 25 km bis zum Ziel sein und somit Zeit für einen ausgiebigeren Biergarten- oder Cafebesuch. Wenn man weiß, dass man keine große Strecke mehr vor sich hat, sitzt es sich doch viel entspannter… 

Gesagt – getan. In Creglingen landen wir schnell bei einer Eisdiele und füllen nochmal die Reserven auf. Wir sind sehr gelassen und  freuen uns, dass wir unsere Königsetappe schon so gut wie hinter uns haben, nicht ahnend, was da noch auf uns zukommt. Beim Verlassen des Orts folgen wir ganz naiv den Wegweisern mit dem Fahrradpiktogramm, ohne uns vorher noch einmal mit der Route auf der Karte vertraut zu machen.

Der Weg führt uns gleich aus dem Tal heraus, steil ansteigend den Berg hinauf. Mehr als 100 Höhenmeter lege ich so schnaufend zurück, die letzten Kilometer nach Rothenburg habe ich mir anders vorgestellt! Es wird immer einsamer und irgendwann stehen wir mitten im Wald, hoch über dem Taubertal. So langsam dämmert es uns, dass wir uns mal wieder ordentlich verfranzt haben und der Blick auf das Handy mit der Karten-App bestätigt die Befürchtung: der eigentliche Weg verläuft weit entfernt auf der anderen Seite des Tals. “Wie kann man nur so blöd sein!” grummelt es in mir.

Nett hier. Nur leider völlig falsch…

Die dann folgende rauschende Talabfahrt mit tollen Ausblicken in das Taubertal entschädigt ein wenig für die Strapazen. Ich versuche, die Extraschleife positiv zu sehen, sozusagen als kleine Trainingseinheit für die Alpenetappen, was mir allerdings nur begrenzt gelingt. Den ganzen Tag über war es schwül und jetzt zieht sich der Himmel zu. Wir wollen nicht auf den letzten Kilometern in ein Gewitter geraten und geraten deshalb ordentlich unter Druck. Keinen Druck habe ich hingegen in den Beinen. Die fühlen sich inzwischen eher leer und kraftlos an. Das wirkt sich auch auf die mentale Verfassung aus. Die gute Laune ist dahin und ich bin zunehmend genervt.

Steile Einfahrt durch das Stadttor von Rothenburg ob der Tauber.

Spätestens bei der Einfahrt durch das Stadttor von Rothenburg ist der ganze Stress vergessen. Es erwartet uns ein mittelalterliches Städtchen, wie es sie so in Europa vermutlich nur noch selten gibt. Das sehen Touristen aus der ganzen Welt ähnlich und deswegen ist auch einiges los. Wir schieben unsere Räder durch die Stadt zu unserem Hotel, das zur Abwechslung mal mit einer angenehmen Überraschung auf uns wartet. Es ist ein “Silence Hotel”, in mittelalterlichem Stil direkt an der Stadtmauer gelegen, aber – wie der Name schon sagt – sehr ruhig. Das Zimmer ist schön, die Betten sind groß genug, hier gibt es wirklich nichts zu meckern. Alle schlechte Laune ist vergessen, wir sind stolz auf 110 km und über 900 Höhenmeter, die wir heute hinter uns gebracht haben und schon jetzt freuen wir uns auf eine geruhsame Nacht und dass am nächsten Tag bis Dinkelsbühl nur eine kurze Etappe geplant ist. 

Schon kurz nach unserer Ankunft in Rothenburg donnert es  und ein mittelschweres Gewitter geht über die Stadt nieder. Als sich die Regenwolken fürs Erste verziehen, starteten wir unsere Besichtigungstour durch die Stadt. Rothenburg ist von einer begehbaren Stadtmauer umgeben, von der man aus verschiedensten Blickwinkel die Stadt erkunden kann. Die letzten dunklen Wolken in Verbindung mit der langsam einsetzenden Dämmerung verstärken die mittelalterliche Atmosphäre und lassen erahnen, wie es in der ehemaligen Reichsstadt früher ausgesehen hat.